Jüngere Entwicklungen in der Europäischen Union („EU“) sowie politische Forderungen deuten darauf hin, dass die strafrechtliche Verfolgung von Sanktionsverstößen in der EU weiter intensiviert und gegebenenfalls sogar zentralisiert werden wird:
In diesem Client Alert gehen wir darauf ein:
Seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 hat die EU neun Sanktionspakete mit restriktiven Maßnahmen gegen Russland erlassen. Diese umfassen individuelle Sanktionen gegen Individuen und Unternehmen sowie Wirtschafts- und Handelssanktionen, die insbesondere die technischen und finanziellen Voraussetzungen der Fortführung der militärischen Aggression vereiteln sollen. Die Durchsetzung der EU-Sanktionen, einschließlich der Strafverfolgung bei Sanktionsverstößen, obliegt den Behörden der EU-Mitgliedstaaten, die auf Grundlage ihres nationalen Verwaltungs- und Strafrechts tätig werden.
Die Anforderungen der EU-Sanktionsverordnungen an die mitgliedstaatliche Durchsetzung sind bislang eher allgemeiner Natur. Verordnung (EU) Nr. 269/2014 verlangt – wie die übrigen Sanktionsverordnungen der EU – von den Mitgliedstaaten insbesondere Folgendes:
Die Unterschiede bei der tatsächlichen Durchsetzung der Russland-Sanktionen der EU offenbart der Blick auf den Umfang der eingefrorenen Vermögensgüter: So waren nach Angaben des EU-Justizkommissars Didier Reynders Ende Oktober 2022 im Wesentlichen lediglich sieben EU-Mitgliedstaaten für das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Herkunft in Höhe von damals rund 17 Milliarden € (am 16. Dezember 2022: rund 18,9 Milliarden €) verantwortlich.
Hinsichtlich der Verfolgung von Sanktionsverstößen ist der Befund ähnlich: Ausweislich einer Vergleichsstudie aus Dezember 2021 folgen aus der fehlenden Harmonisierung des anwendbaren Rechts auf EU-Ebene erhebliche Unterschiede bei der Durchsetzung und strafrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen EU-Sanktionen in den Mitgliedstaaten.
Die EU hat bereits verschiedene Maßnahmen in die Wege geleitet, um die Durchsetzung ihrer Russland-Sanktionen auf mitgliedstaatlicher Ebene einheitlicher und wirksamer zu gestalten.
Dies betrifft in besonderer Weise die Erfassung der eingefrorenen Gelder und Vermögensgegenstände sanktionierter Individuen und Unternehmen, hinsichtlich derer die Russland-Sanktionen der EU (anders als die zahlreichen weiteren Sanktionsregime) nun etwa Folgendes vorsehen:
Die Harmonisierung umfasst auch die Strafverfolgung von Sanktionsverstößen:
Neben dem Bestreben maximaler Wirksamkeit der EU-Sanktionen gegenüber Russland zeigt sich hier ein weiterer Zweck der Änderungen: Der Wiederaufbau der Ukraine soll nach Beendigung des russischen Angriffskrieges auch aus eingefrorenem Vermögen sanktionierter russischer Oligarchen und Unternehmen finanziert werden. Bei Verstoß gegen Straftatbestände kann eingefrorenes Vermögen beschlagnahmt und eingezogen werden. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag einer Richtlinie über die Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten der Europäischen Kommission, der unter anderem die Entziehung von Erträgen aus Sanktionsverstößen vereinfachen möchte.
Das in Deutschland am 28. Mai 2022 in Kraft getretene Sanktionsdurchsetzungsgesetz I dient der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben und zielt insbesondere darauf ab, den Behörden die notwendigen Befugnisse zu verleihen, um mit eingefrorenen Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen sanktionierter Personen umgehen zu können:
Das am 28. Dezember 2022 in Kraft getretene Sanktionsdurchsetzungsgesetz II enthält weitere Maßnahmen, um die Wirksamkeit der Durchsetzung von EU-Sanktionen in Deutschland zu erhöhen. Insbesondere wurde auf dessen Grundlage zum 2. Januar 2023 bereits eine Zentralstelle für Sanktionsdurchsetzung (ZfS) auf Bundesebene als Direktion XI der Generalzolldirektion eingerichtet, um unbeschadet der im Außenwirtschaftsgesetz festgelegten Zuständigkeiten von BAFA und Bundesbank die Durchsetzung von Sanktionen zu gewährleisten und mit ausländischen Behörden zusammenzuarbeiten. Ferner schafft das Gesetz spezifische Befugnisse der Zentralstelle für die Ermittlung und Sicherstellung von Vermögen sanktionierter Personen und Unternehmen, trifft Verfahrensregelungen für Meldepflichten sanktionierter Personen und führt ein korrespondierendes Register für Vermögenswerte ein. Zudem wird eine Hinweisannahmestelle für Sanktionsverstöße geschaffen. Das Gesetz regelt weitreichende Überwachungsbefugnisse der Zentralstelle bei Verdacht von Sanktionsverstößen, einschließlich der Bestellung eines Sonderbeauftragten für Unternehmen, und trifft zahlreiche Änderungen zur Sicherstellung der Transparenz von Eigentümerstrukturen und Transaktionen (darunter: Überführung von Immobiliendaten in das Transparenzregister; Mitteilungspflicht von ausländischen Vereinigungen bei Bestandsimmobilien im Inland; Barzahlungsverbot bei Immobilientransaktionen; Nutzbarmachung von Eigentums- und Kontrollstrukturübersichten für Behörden; Pflicht zur Begründung der Meldung eines fiktiven wirtschaftlich Berechtigten im Geldwäscherecht).
Angesichts der Unterschiede in der mitgliedstaatlichen Vollzugspraxis befürchtet der Rat trotz der bereits erfolgten Verschärfungen, dass die Mitgliedstaaten die Russland-Sanktionen nicht ausreichend wirksam durchsetzen. Vor diesem Hintergrund beschloss der Rat am 28. November 2022, Sanktionsverstöße in den Katalog der in Art. 83 Abs. 1 AEUV definierten „Kriminalitätsbereiche“ aufzunehmen. Diese sollen Fälle besonders schwerer Kriminalität umfassen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Vorangegangen war ein entsprechender Vorschlag der Europäischen Kommission vom 25. Mai 2022. Der Ratsbeschluss könnte Grundlage weiterer Maßnahmen zur Angleichung und Verschärfung der Verfolgung von Sanktionsverstößen sein:
Die EUStA hat sich seit Beginn ihrer operativen Arbeit im Juni 2021 in kürzester Zeit als äußerst schlagkräftige neue Ermittlungsbehörde für grenzüberschreitende Fälle von Wirtschaftskriminalität mit EU-Bezug erwiesen. Es steht zu erwarten, dass die EUStA sich aufgrund ihrer institutionellen Eigenständigkeit und ihrer besonderen fachlichen und rechtlichen Kompetenzen in den kommenden Jahren als die europaweit führende Ermittlungsbehörde etablieren wird. Unternehmen, die grenzüberschreitend in Europa tätig sind, sollten mit der Arbeitsweise der EUStA vertraut sein, um mit Verdachtsfällen, die in die Zuständigkeit der EUStA fallen, angemessen und vorausschauend umzugehen. Sollte die politische Forderung nach einer Zuständigkeit der EUStA für Sanktionsverstöße Realität werden, würde die EUStA nur noch mehr an Bedeutung gewinnen.
Als unabhängige Staatsanwaltschaft der EU ist die EUStA sachlich zuständig für die strafrechtliche Untersuchung, Verfolgung und Anklageerhebung in Bezug auf Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU (Art. 86 Abs. 1 AEUV).
Die EUStA ist befugt, wegen folgender Delikte zu ermitteln:
Örtlich zuständig ist die EUStA, wenn diese Straftaten
Von den 27 EU-Mitgliedstaaten gehören 22 Länder zur EUStA-Zone. Ungarn, Polen, Schweden, Dänemark und Irland der EUStA haben bislang keine Kompetenzen übertragen.
Für Straftaten, die nicht in die Ermittlungsbefugnis der EUStA fallen, bleiben die nationalen Strafverfolgungsbehörden zuständig.
In Deutschland ermittelt die EUStA auch gegen juristische Personen und Personenvereinigungen wegen einer Ordnungswidrigkeit, soweit die Ordnungswidrigkeit untrennbar mit einer Straftat gegen den EU-Haushalt verbunden ist oder sofern sie zuständigkeitshalber bereits ein Ermittlungsverfahren gegen eine Leitungsperson des Unternehmens führt.
Neben der EUStA gibt es auf EU-Ebene noch andere Einrichtungen, die für die Kriminalitätsbekämpfung zuständig sind, und mit denen die EUStA eng zusammenarbeitet.
Die zentrale EUStA-Behörde mit Sitz in Luxemburg wird geleitet von der Europäischen Generalstaatsanwältin Laura Codruţa Kövesi (Rumänien). Zusammen mit je einem Staatsanwalt aus den 22 teilnehmenden Mitgliedstaaten bildet sie das Kollegium der EUStA. Dieses ist zuständig für Strategie und interne Vorschriften der Behörde.
Auf nationaler Ebene sind die Delegierten Europäischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in den 22 teilnehmenden Mitgliedstaaten sowie den Ständigen Kammern tätig. Dort tauschen sich die Europäischen Staatsanwälte regelmäßig aus und treffen Ermittlungs- und Anklageentscheidungen. In jedem Mitgliedstaat gibt es mindestens zwei Delegierte Europäische Staatsanwälte, die unter Aufsicht der zentralen Behörde in Luxemburg unabhängig von ihren nationalen Behörden ermitteln, verfolgen und anklagen. Dabei agieren sie weiterhin unter Beachtung ihrer nationalen Straf- und Strafprozessgesetze. Im Unterschied zu ihren nationalen Kollegen ermitteln sie unabhängig von etwaigen nationalen Weisungsbefugnissen. Vielmehr steht ihnen sogar ein Weisungsrecht gegenüber den nationalen Behörden des Mitgliedstaates zu. In Deutschland haben die Delegierten Europäischen Staatsanwälte ihre Dienstsitze in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und München.
Erhält die EUStA Kenntnis von Sachverhalten, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen könnten, prüft sie Anfangsverdacht und Ermittlungsbefugnis. Anzeigen können dabei sowohl von Bürgern als auch von nationalen Behörden kommen. Nimmt die EUStA die Ermittlungen auf, haben die nationalen Behörden eigene Untersuchungen im selben Fall zu unterlassen (Evokationsrecht der EUStA).
Die operative Ermittlungsarbeit findet weiterhin auf nationaler Ebene statt. Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte ermitteln auf Grundlage der nationalen Gesetze des Mitgliedsstaates und beantragen richterliche Entscheidungen vor den nationalen Gerichten. Erhebt die EUStA Anklage, erfolgen Hauptverhandlung und gegebenenfalls Verurteilung vor einem nationalen Gericht. Für Rechtsmittel steht der nationale Rechtsweg offen.
Die Arbeitsweise der EUStA ist digital. Ihr Case Management System erlaubt es ihr, sehr große Datenmengen entgegenzunehmen, zu verarbeiten und auszuwerten. Gespeist wird das System aus unterschiedlichen Quellen (z. B. Angaben von Privatpersonen sowie von europäischen und nationalen Behörden). Der Zugriff auf internationale Netzwerke und der unbürokratische Austausch zwischen den Delegierten Europäischen Staatsanwälten über Landesgrenzen hinweg ermöglichen den Ermittlern eine zügige Verfahrensführung. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten werden die Doppelarbeit gleichzeitig ermittelnder nationaler Staatsanwaltschaften vermieden und Ermittlungskompetenzen stattdessen gebündelt. Durch die Zusammenarbeit mit anderen internationalen und nationalen Verfolgungsbehörden können so beispielsweise hunderte Durchsuchungen in verschiedenen Ländern gleichzeitig erfolgen.
Die Bilanz der EUStA seit Beginn ihrer operativen Arbeit im Juni 2021 belegt ihre Schlagkraft:
Die Befugnisse der EUStA können gemäß Art. 86 Abs. 4 AEUV auf andere grenzüberschreitende Straftaten ausgedehnt werden. Dies würde einen Beschluss des Europäischen Rates voraussetzen, die Strafverfolgungsbefugnis auf einen oder sämtliche der in Art. 83 Abs. 1 AEUV genannten „Kriminalitätsbereiche“ auszuweiten. Hier kommt die aktuelle Erweiterung des EU-Straftatenkataloges um Verstöße gegen EU-Sanktionsvorschriften ins Spiel. Da diese nun Teil des Kataloges in Art. 83 Abs. 1 AEUV sind, könnte in einem nächsten Schritt die entsprechende Änderung von Art. 86 Abs. 1 AEUV folgen. Der EUStA würde dann auch insoweit eine Ermittlungsbefugnis erteilt, die von den Mitgliedstaaten der EUStA-Zone anzuerkennen wäre. Zügige und einheitliche Ermittlungsverfahren könnten die Folge sein. Nationale Staatsanwaltschaften, die aktuell mit der Bearbeitung von Sanktionsverstößen betraut sind, würden entlastet.
Einem Unternehmen, das aufgrund von Anzeichen für die Begehung einer unternehmensinternen Straftat interne Ermittlungen durchführt, sollte zum einen bekannt sein, dass im Fall des Verdachts einer EU-Straftat nicht nur nationale Staatsanwaltschaften ermitteln und ggf. Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchungen von Geschäftsräumen ergreifen könnten. Es steht zu erwarten, dass die EUStA von ihrem Evokationsrecht Gebrauch macht und die Ermittlungen an sich zieht, wenn ein Sachverhalt in ihre Zuständigkeit fällt. Zwar werden weiterhin inländische Staatsanwältinnen oder Staatsanwälte handeln und bei ihren Ermittlungen mit inländischen Verfolgungsbehörden zusammenarbeiten. Die Ermittlungen führt die EUStA mit Hilfe dieser Delegierten Staatsanwälte aber in eigener Zuständigkeit weitgehend autonom. Hat ein Unternehmen Hinweise auf Fehlverhalten, sollte vorausschauend geklärt werden, ob die Zuständigkeit der EUStA begründet sein könnte. Auch die Durchführung interner Ermittlungen und die Entscheidung, ob mit Strafverfolgungsbehörden kooperiert werden sollte, sind diesen neuen Gegebenheiten anzupassen.
Zum anderen bleibt abzuwarten, ob die EUStA auch für die Verfolgung von Sanktionsverstößen ein Mandat erhalten wird. Unbeschadet einer etwaigen Ausdehnung der Zuständigkeit der EUStA für Sanktionsverstöße zeichnet sich im Bereich der Sanktionsdurchsetzung eine verschärfte und unionsweit vereinheitlichte Strafverfolgung ab. Der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht nur, Sanktionsverstöße in Zukunft mit den Mitteln des Strafrechts unter Androhung empfindlicher Geld- und Gefängnisstrafen zu bekämpfen. Nach der Richtlinie sollen mitgliedstaatliche Behörden, Europol, Eurojust, die Europäische Kommission sowie die EUStA – soweit jeweils zuständig – bei der Verfolgung von Sanktionsverstößen zusammenarbeiten und sich koordinieren.